
Ich habe einen wunderbaren Therapeuten. Ihn gefunden und für mein Bestes gewonnen zu haben rechne ich mir selber hoch an. Seit einiger Zeit haftet ihm selber ein Leiden an: kein psychisches, sondern eine Rückenproblematik, für welche er Therapie benötigt. Ansonsten wirkt er unglaublich privilegiert: wie ein römischer Brunnen sprudelt seine Energie, sein Wissen, seine Einsicht, seine Gemütskräfte von einer vollen Schale in die nächste. Keine meiner Probleme bringt ihn in Verlegenheit, weil er die Überzeugung glaubhaft vermittelt, dass alles reichlich vorhanden ist, was zu einer Besserung beiträgt. Meine Gebrochenheit braucht mir nicht einmal selber leid zu tun. Mein Therapeut ist auch unheimlich fair. Nach gut zwei Jahren erlaube ich mir eine solche Bewertung. Er hält mich nicht fest, er verpflichtet mich nicht und fesselt mich trotzdem.
Chronos und Kairos. Auf diese beide Begriffe nahm er gestern Rekurs um mir die berechtigte Hoffnung aufzuzeigen: Der zeitliche Verlauf eines Menschenlebens hat einerseits seine Unerbittlichkeit darin, dass er unaufhaltsam dem Tod und dem Zerfall entgegen eilt. An ihm leidet der Mensch. Auch ich, der ich mich durch meine psychischen Gebresten in etlichen Versuchen zu reüssieren behindert fühle. Die Ursache sieht mein Therapeut unsentimental in einer verpassten gesunden Zuwendung in der frühen Kindheit. Oft komme ich mir wie ein gesprungener Krug vor, der im Wettbewerb mit intakten keine Chance hat beim Wasserschöpfen. Halbblinde Realisten sehen nur diesen Chronos. Mein kluger und unsentimentaler Therapeut räumt aber auch das Moment des Kairos in sein Weltbild, resp. in sein medizinisches Menschenverständis ein. Erwiesenermassen ergeben sich in der persönlichen Entwicklung günstige Augenblicke, etwas Unwiderbringliches nachzuholen. Wer kennt sie nicht, diese schwer zu beschreibenden unmerklichen und unmanipulierbaren Erfahrungen transzendentalen Glücks, Stärkung, heilsamer innerer Berührung? Auch mein Chaos und meine Zerrissenheit wird an der Unerbittlichkeit eines vorzeitigen Todes sterben, um sich in einem kairologischen Moment zu verwandeln. Für eine solche Erwartungshaltung gibt es offenbar wissenschaftlich vernünftige Grundlagen.
Eine Mücke kann einen Elefanten plagen und ein winziger Virus, dazu noch ein ganz harmloser, von welchen Zig-Tausende in der freien Atemluft zirkulieren, bringt mich zur Strecke, besonders wenn ich psychisch bereits angefochten bin. Ich habe dann so viele Probleme, ich würde mich am liebsten ent-sorgen. Heirat? Allein die Vorstellung verspottet mich höhnisch. Und dennoch möchte ich so gern in einem sicheren Boot übers Wasser fahren zum anderen Horizont. Wenn nötig eben allein. Aber bitte, Kairos, keinen gewaltsamen Tod in endlosen Raten, keine Kompromittierungen bis ich vollständig reduziert bin.
Ich puzzle mich wieder zusammen. Die Teile wirken halt- und schwerelos wie bunte Daunen, und ich fürchte jeder Luftstoss löst eine ästehtische Verzweiflung aus. Bis wann soll ich die Arbeit vertagen? Bis alles flach geregnet ist und am Boden klebt? Und was mach ich inzwischen mit dem Sonnenschein in diesem seltsam frühlingshaften Winter?
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