Dienstag, 9. Oktober 2007

Mama oder "The only love they'll find is Paradise" (Seal)

Manchmal überkommen einen die Gedanken.
Dein Schicksal übersteigt mich, Mama. Als Kind habe ich es persönlich empfunden, wenn sich dramatisch äusserte oder du apathisch stillschwiegst, wenn dich das Leiden überschattet hat. Eigentlich hatte das Leiden dann dich und nicht mich gemeint. Aber versteht ein Kind diesen Unterschied? Heute versteh ich deine Aussage von damals, als ich in der Primarschule meine Familie beschreiben und unter anderem ihre Hobbies nennen musste: „Schlafen“, hast du geantwortet. Ich schrieb es hin, empfand es aber als Beleidigung. An der Oberfläche meinte ich, du hättest keine Lust, für meinen Aufsatz zu kooperieren. Weiter unten machte ich mir wohl Sorgen, dass die Ursache für dein „Hobby“ tiefer lag. Wenn mich heute mein Kind interviewen würde, mit welchem Alter ich zu sterben wünschte, wenn ich die Wahl hätte, würde ich dann mein aktuelles Lebensjahr nennen, wenn mich gerade das Leid wieder heimsucht? Es vermag wohl kein Elternteil je durchgängig pädagogisch hilfreich zu wirken. Manchmal ist die „Wahrheit“ stärker. Was ist die Wahrheit über dich, Mama?
Inwieweit, Dr.Prank, ist psychisches Leid kurierbar? Worin besteht es überhaupt? Sie würden Ihrem therapeutischen Berufscodex gemäss antworten: Ja, es ist kurierbar und es besteht aus einer Fehlprägung. Sie sind in meinem Fall noch nicht erfolgreich, vielleicht weil ich Ihre Überzeugung anhand meiner Erfahrungen nicht teile; jedenfalls werde ich immer wieder, häufig und an meiner Sensibilität gemessen, viel zu massiv angefallen. Die Angriffe erscheinen mir wie Attentate; ich erkenne kaum Erspriessliches darin. Lediglich Alarm. Sie, Dr.Prank, sind einer meiner Crew, die mich wiederherrichtet. Zeitweilig betrachte ich meine gesamte Lebensführung als solche Crew. Auch dich, Janosch, instrumentalisiere ich für meine Abwehr gegen die Anschläge.
Dir, Mama Beatrice, bin ich kürzlich wieder begegnet. Du hattest keine deiner Wutexplosionen, und du wirktest fragil und durchgeschüttelt. So viel mehr und so viel heftigere Angriffe hast du schon überlebt. Was wurde schon von deinen Träumen weggesprengt, was steht noch von dem Bunker, in welchen du dich flüchten wolltest, wenn es ganz arg kommt? Lebst du nur mehr noch von Luft?
Du weitest meinen Glauben, Mama. Du pushst ihn jenseits jeder Axiome einer moralischen Gerechtigkeit, welcher auch der neue Churer Bischof weiter Vorschub leistet und Menschen in Not wie mich damit nur abschrecken kann. Jesus hat alle menschlichen Ideale, nicht nur die Gerechtigkeit an sich demonstriert, nein sogar vor Zuwendung und Liebe hat er nicht Halt gemacht durch seine Verurteilung und Hinrichtung. Du bist nicht unschuldig wie Jesus, Mama, aber auch du wirst nicht für deine Fehler hingerichtet; du erleidest das Leben jenseits jeder Hoffnung und freudiger Erwartung. Wie irreführend spricht die Natur das Gleichnis eines unverdorbenen Samens: Man wächst, man blüht, man wird gross und stark und überdauert. Was aber gilt für uns, wo von Anfang an der Wurm drin war? Was geschieht mit unserer Anstrengung, mit unserer Disziplin, mit unserer Hoffnung? Sie wird durch erschreckende Tatsachen belehrt in einer langen Lektionsreihe, indem jede aufbauende Erkenntnis widerlegt wird. Nicht in der Therorie zwar, aber in der Praxis: „Was in 100 Fällen hilfreich ist, wird in dir nicht greifen. Es fällt wie in einen hohlen Schacht.“
Ich beobachte es an meinem gesunden Lebensstil. Niemand kann mir einen ernsten Vorwurf machen. Ich ziehe alle Register. Du hast weniger gesund gelebt. Jetzt aufs Alter eher. Du übst mehr Schonung. Aber du bekommst kaum, was angeblich hilft: Eine wohlwollende Beobachtung oder nur schon Beachtung. Du hast einen wunderbaren Mann, aber er hat dein Schicksal unterschätzt und er trägt selber an den schweren Folgen. Ist das eine christliche Geschichte, die ich hier erzähle? Ja, es hätte noch schlimmer werden können. Wir sind alle erhalten geblieben mit allen Verlusten und wir beurteilen einander längst nicht mehr nach Verdiensten. Uns ist allen in die Knochen geschrieben, dass der Tod ein ungeheures Erlebnis sein muss.
Ich weiss nicht wie es weiter geht. Wenn Kinder mit Bauklötzen spielen, die wieder zusammenfallen, dann scheint das Unternehmen vergnüglich, denn sie werden wachsen und in ein paar Jahren Baupläne umsetzen, ob welchen Erdbebenopfern das Zittern ergreift. Was aber wenn die Kinder erwachsen sind, und man sieht, dass mit ihnen etwas nicht stimmt?
Du hast vier Kinder gross gezogen und du tat’s es unter deinen Bedingungen erstaunenswert. Alles lief vorbildlich; du fördertest jeden von uns über die Massen und mit grossem Einsatz. Alles stimmte nur der Erbcode, die Beziehungsmuster und die Konfliktbewältigung nicht. Es scheint zur Brutalität der natürlichen Ordnung zu gehören, dass ausgerechnet das massgeblich sein soll? Ich jedenfalls will in meinen Sackgassen nicht weiter experimentieren und muss nur einen Ausweg aus meiner Liebessehnsucht finden. Realistisch betrachtet ist sie bezogen auf ein menschliches Gegenüber chancenlos. Die Namensreihe hehrer Männer wird sich weiter fortziehen, bis ich aus dem Traum erwache? Wie lange hab ich versucht mich mit Erkenntnislehren über das Glück aufzumuntern, aber ich trage zu einer erlösteren Welt nichts eigenes nur fremde Beobachtungen von gesunden oder sterbenden Menschen bei.
Sag, Mama, bin ich fair oder hab ich etwas unterschlagen? Hab ich etwas nicht beachtet, was für dich hoffnungsvoll und lohnenswert erscheint? Betrachte ich es lieblos, wenn ich dich als ein Opfer von Explosionen sehe, von denen die ersten dich schon früh destabilisiert haben in Hinblick auf ein menschliches Glück? Vergeblich bautest du daran. Immer waren Sprengsätze darunter. Ich kann mich selber nicht entschärfen trotz unzähligen Versuchsmethoden. Ich glaube diese Macht war in dir noch stärker. Ich glaube, dein Schmerz ist schlicht unermesslich. Und nie tut er mehr weh als ihn untrüglich in der eigenen Mama zu erkennen. Aber du hast früh verlangt, dass ich diese Wahrnehmung unterdrücke. Ich konnte mir schon ganz früh deinen Tod vorstellen als das grosse Etwas, das dir etwas zu geben vermochte gegen dein Leiden. Ich wollte dir zum Leben helfen aber du wusstest, das war der grösste Unsinn und du triebst mir diese Idee mit einer würdevollen Kälte aus. Du wolltest immer, dass ich mein eigenes Glück schmiede, statt dein Unglück zu reparieren mit heuchlerischem Selbstmitleid. Aber ich glaube, es war bereits zu spät. Ich revidiere jede Woche meine neuen Absichten, weil die alten zwar lauter waren, aber vernichtet wurden. Sehe ich das richtig? Ich meine, jetzt wo wir uns unterhalten könnten? Ich habe wie du keine Erwartung. Auch ich bin kalt und kann ohne dich sterben. Aber einen Retter wünsche ich dir, der dich, und wenn’s nur subjektiv ist, in manch seltenen Momenten fröhlich, nicht einmal zuversichtlich, aber selbstvergessen sein lässt.

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