
Gerade hat mich ein gemeinsamer Bekannter von uns angerufen, nämlich von der Basisgottesdienstgruppe – rat einmal wer – um mich zu fragen, wie mir die monatliche Feier gefallen hat. Wieviele Jahre ist es her seit meinem letzten Besuch? Zwei oder drei?
Die Begegnung mit dir, mein Freund, war für mich ein eindeutiges Highlight. Wir trafen uns bei der Kleingruppe Farbe Rot, auch Gerard war dort; ein lustiges Trio hatte sich wieder.
ec, mein Lieber, verzeih mir, dass ich dich beim Kürzel nenne, statt irgendeinem affektivem Kosenamen. Sieh auch der öffentlichen Form meiner Korrespondenz nach; ich fühl mich nun mal als Schreiberling, in mir wird so vieles frei, wenn ich mich äussern darf auf eine Art und Weise, die möglicherweise von verschiedenen Leserinnen reflektiert und unterschiedlich verstanden oder beurteilt wird. Ich stelle mich nämlich direkt keiner Beurteilung aus meiner Grundangst durchzufallen. Auch das ist einer aus 10000 Gründen für meine Religiosität: einzig der gütige Gott, der Allerbarmende, darf mir dufte Noten geben.
Wie liest du meinen Brief bis zu diesen Abschnitt? Vertrauensvoll, sympathiegewiss oder verhalten, skeptisch, in einer düsteren Vorahnung, dass ich abrechne?
Warum ich die rote Farbe gewählt habe, wolltest du wissen. Weil Spiderman meine neue Identifikationsfigur sei, gab ich zur Antwort. Es gab keine Gruppe Schwarz. Ich wäre sonst hin- und hergerissen gewesen zwischen Eros und Thanatos. Und wie dir auf dem aktuellen Filmplakat von Spiderman III sicher nicht entgangen ist, arbeitet dessen dunkle Seite diesmal eng mit dem rot-blau Kostümierten zusammen. Auch du hast beide Seite ausgeprägt. Vom rot/schwarzen Muster war unsere Freundschaft am Ende sehr durchtränkt; unsere Charakteren gaben ihr eine eigenartige Dynamik.
Du tauchtest gestern unverhohlen neben mir auf, bei Farbe rot, wie ein Magier. Ich hatte mich zugegebenermassen ein bisschen auf dich eingestellt, als ich zur Feier hin ging, aber ich konnte einmal mehr die reale Begegnung im Geist nicht vorwegnehmen. Von meinem Sitzplatz aus hatte ich dich nicht gesichtet, und ich bedauerte schon, dass du nicht da warst, denn ich fühlte mich sehr einsam in der Gruppe. Mir fehlte der herzliche Bezug. Doch den stelltest du rasch her, mit deiner nonchalanten Art. Du knüpftest mit deiner fröhlichen Offenherzigkeit an unsere besten Zeiten, scheinbar unbelastet oder gar nichtsahnend gegenüber dem sehr harten Abbruch unserer schönen Verbundenheit damals.
Klingt es narzisstisch und selbstbemitleidend, wenn ich hier schreibe, nicht dir schreibe, denn das lesen auch noch andere, wie ich ziemlich lange, wirklich ziemlich lange um dich getrauert habe, wie um wenige Menschen? Ich hab zwar auch lange um meine Eltern getrauert und traure manchmal heute noch, obwohl sie beide „leben“ (beide wissen, sie haben einen manchmal sehr vorwitzigen Sohn); ich schreibe bis heute rührende Briefe an meinen Lieblingsmönch (alles „offene“ Briefe, „Literatur“), und meine ersten Liebe taucht noch dann und wann in meinem Schlafbewusstsein auf. Vielleicht bin ich gar nicht so beziehungsarm, wie ich manchmal meine. Ist Trauer nicht ein schönes Zeichen einer nachträglichen Verbundenheit? Natürlich hat das „Nachträglich“ seine Tücken. Warum nicht „jetzt“? Warum bin ich unspontan und erst im nachhinein altklug?
Ich habe auch von dir geträumt, kleiner ec, in wirklich ergreifenden Bildern, um dich zu vergessen. Einmal trugst du einen riesigen, roten Regenschirm. So viele Tränen fielen offenbar auf dich, dass du ihn brauchtest, zumindest im Traum. Dabei gabst du dich so gefrierkalt am Schluss unserer Kamradie, während ich nirgendwo, in keiner denkbaren Himmelsrichtung irgendeine Sackgasse sah. Ich verstand keinen Tod. Deine radikale, panzerknackersichere Kontaktblockade war für mich absurd. Ich musste sehr viel Egoismus überwinden, bis ich verstand, wie ernst es dir war. Mehr Egoismus als mir gut tat. Ich machte hier eine Ersterfahrung - keinerlei Déjà-Vu - die mir die Kehle zuschnürte. Noch heute kann ich das Gefühl abrufen. Aber du wecktest gestern die anderen Gefühle in mir, die nicht sterben mussten. Auch der Tod löscht Gefühle nicht, er setzt nur ohnmächtige hinzu.
Du warst freundlich und aufgeschlossen und eigentlich hattest du eine Menge good news. Ist es so, ec, war es nicht Gesellschaftsrollenspiel (das glaube ich nicht), dass vieles sich positiv für dich entwickelt hat: deine finanzielle, deine berufliche, deine häusliche Situation und dass du Söhne hast, die wie junge Ölbäume wachsen, weit über uns Heckenstauden hinaus? Oder warst du mir doch zu rhetorisch, zu gut gelaunt, so dass ich nach der Kleingruppen“arbeit“ recht melancholisch wurde auf meinem Stuhl und beschloss, mich gleich nach der Feier von dir zu verabschieden. Ich wollte nicht grusslos weg, ich wollte dir schreiben (d.h. ich wollte im nachhinein altklug wirken, was ich hier ja prompt tue). Viel Echo kam mir in den Sinn auf unser fröhliches Treffen bei Farbe rot. Ich wollte dir aus meiner Buchveröffentlichung die entsprechenden Seiten über den Waschbär zustellen, die ich wehmütig im Gedanken an dich nach deinem Notstopp geschrieben habe, z.T. sogar unter Verwendung von italienischen Gebetszeilen aus deiner Feder.
Was wollte ich dir beim Abschied sagen, die manchmal in grossen Gruppen von meiner Seite her kurz ausfallen? Was war unmissverständlich lieb gesagt und für andere Ohrenzeugen zumutbar und nicht zu privat? Ich wollte dir sagen: ec, du bist cool, wie du deine Power lebst. Setz mit Freude daran fort! So ungefähr sagte ich es dann auch. Das war absolut aufrichtig und ohne meine gewohnte Ironie oder Doppelbödigkeit. Eigenartigerweise erinnerte ich mich vorher wieder an deinen Skorpionaszendenten, der sich mit meiner Waage missverhielt. Aber ich dachte in diesem Moment bewusst nicht von meiner Person her, ich wollte dich als dich denken, und dein Pluto steht in zehn. Markant, an gesellschaftlicher Stelle. Und du lebst ihn, du schöpfst aus ihm. Es machte mir Freude, das bei Farbe rot zu spüren. Du lebst eine hohe Verantwortlichkeit, sowohl im Beruf, wie gegenüber Menschen, für die du Verantwortung hast, und damit meine ich natürlich in erster und einzigartiger Linie deinen jüngeren Sohn. Du verdienst viel Geld und trägst einen grossen Schuldenberg ab mit wirklich kraftvollen Schaufelhüben. Ich bewundere dich, und du rührst mich!
Das sagte ich natürlich nicht. Aber du nahmst dir Zeit für mein Verabschieden. Du teiltest mir all das mit, wozu es bei Farbe rot nicht gereicht hatte. Und vielleicht wurde es am Ende wieder zuviel für mich sensiblen Jüngling. Du fordertest mich nämlich freundschaftlich auf, mich einmal bei dir zu melden. Ich wusste nun wieder, wo du wohnst (du warst nämlich umgezogen), und du brachtest mir deine selbstkreierte e-mail Adresse bei, mit dem gekauften Domain, das zu dir passt: ec.
Du hattest dich während unserer Freundschaft nie für mich geschämt. Weder dafür, dass ich kein Akademiker, noch dass ich in einer Anlehre-Funktion Teilzeit-Angestellter war, während du eine fachspezifische Abteilung leitest und an Kongressen referierst. Auch dass ich meine astrologischen Kurse nicht abgeschlossen habe, bewirkte gestern bei dir keinen Triumph über mich. Mein Minderwertigkeitskomplex hatte immer mir selber gehört, und du hast nach Kräften versucht, ihn überwinden zu helfen; glaubhaft und konsequent. Und dennoch möchte ich den Kontakt zu dir nicht erneuern. Erklärungen: vielleicht später. Nik
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