Donnerstag, 17. Mai 2007

Sorry für alles

Wo anfangen mit Salatessen? Johannis mischt gern viele Sorten untereinander: mindestens Karotten, Rucula, Tomaten und Ackersalat. Wir waren die vorletzte Woche in Faido, aber es führt zu weit, auch noch diese Eindrücke hier zu verarbeiten. Immer, wenn ich ein wenig gequält, bedrückt und genervt wirke, neckt mich Johannis und überbordet mit Schabernack. Damit befolgt er wohl unwillentlich das Gesetz des Ausgleichs innerhalb unserer Beziehungsdynamik. Aber auch ich quäle mich nicht mit Absicht. Die beste Verteidigung für meine Missstimmungen ist, es wurde vererbt. Am Sonntag war Muttertag. Aber meine Mutter ist eine Kollegin, und ich schaff es energetisch nicht, ein Leben lang dankbar zu sein für so viel vergangene Mühe. Immerhin war ich ein „pflegeleichtes“ Kleinkind. Ich geb nach wie vor zu: ich hätt mich selber anders komponiert, wenn ich Eingriff hätte nehmen können. Warum wolltest du mich unbedingt so haben, guter Gott? Es ging auch dir nicht um Gerechtigkeit, sondern wahrscheinlich ebenfalls um ein Gesetz des Ausgleichs. Und diesen Ausgleich suche ich nun täglich mega angestrengt. Überall suchen Exzesse oder Abszesse ihre Wirkung zu vergrössern und ständig bellt sie die Gegenmacht zurück. Ein geordnetes, anständiges, fruchtbares Leben im Innern, bleibt absolut eine Desillusion.
Schwere Kost wollte ich eigentlich nicht auftischen. Es ist sommerlich und mittags genügt ein einfacher Salat; ich brauche gar nicht so viele Komponenten wie der fröhliche Johannis mit seinen Marotten. Aber was soll ich meinen einzigen Freund kritisieren? Es müsste von seiner Seite her nicht einmal so sein, dass ich ihn als einzigen Freund kritisieren kann. Wie entschuldige ich allein den Umstand, dass ich mich abgeschnitten fühle und an verkehrten Fronten kämpfe für eine soziale Integration, die mich rückverbindet, nämlich, wie viele andere auch: im Internet?
Wieder gibt es eine Hitliste mit Kandidaten, wieder gibt es vertrauliche Aussprachen und „Nähe“. Einer wollte mich als rechtloser Sklave bei sich im Keller in Frankfurt verstecken, und als ich ihm schrieb: ich lös grad meine Wohnung auf, alles bekommt die Heilsarmee, gab er zurück: Wirklich? Ich wäre der erste, der endlich ernst macht. Ich schaff’s auch in ehrenwerteren Fällen nicht über den virtuellen Graben. Es scheitert am stimmigen Impuls, der getreulich ausbleibt.
Am Samstag war ich an der Buch Basel, weil ich wieder einmal an der Existenz meiner Autoren-Identität zweifelte. Da ich bisher kaum Rückmeldungen habe, auch keine Zahlen vom Verlag, redete mir eine Stimme ein, dass ich womöglich gar nicht vertreten war. Aber ich war dort, ich lag da auf dem Ausstellungstisch, ganz nah am Eingang. Und das Cover gab sich sogleich zu erkennen, da an diesem Stand wenige Umschläge Bilder hatten; der Herausgeber sieht grundsätzlich kein Bild auf dem Buchdeckel vor. Aber gab es mich wirklich? Ich sah einen Mann, den ich zu kennen meinte und der wie ein potentieller, zweiter Freund von mir aussah. Ich konnte ihn zwar nicht einordnen, aber es spielte keine Rolle, denn er sah mich nicht. Ich sah ihn mehrmals im verlorenen Kursieren zwischen Menschen und Büchern. Ein Verleger spasste mit einem Kind, und ich ging hinter Glas. War ich wieder in einer Welt von Eventualitäten, aber nicht in der Wirklichkeit? In keiner meiner möglichen sozialen Rollen (als Mensch? als Junge von 38 Jahren?) spürte ich irgendeine Veranlassung.
Immerhin war ich sportlich. Ich fluckste also wieder aus der Ausstellung und schritt mit kinästethischer Selbstwahrnehmung innert nützlicher Frist zur Clarakirche, und trat wie ausgemacht zur Zeit des Abendgottesdienstes ein. Hier verband mich der Glaube an jemanden, der du mir bitte helfen sollst(!), aber ich war der einzige Junge mit 38. Ein vierköpfiger Männerchor sang aus Petersburg und es klang wie ab Tonträger: waren das nur vier Stimmen, die den grossen Kirchenraum vollkommen mit Klang ausstaffierten? Man konnte hören wie man stichfestes Joghurt ass: das war mehr als quadrophon. War ich bei dir? Ich empfand einen unpersönlichen Trost, denn meine Lücken bleiben ewig. Was hab ich dich nicht in allen Schief- und Schräglagen gebeten, dass du sie schliessest. Ich geh immer neben mir her und finde es nicht gut, dass ich mich komisch finde, wo das den andern doch eigentlich egal ist. Sind wir nicht alle komisch, wenn die gesunde Verdrängung wegfällt? Ich bin nicht erleuchtet; mein Bewusstsein ist nicht erwacht. Vielmehr scheint, dass der Urgrund zumachte bei der Geburt. Gott, ich bekenn meinen Widersinn: auch wenn du für viele unentschuldbar zu selbstverständlich und unerforschlich geworden bist, wir zwei sind keine Monade, nur weil ich dich nötig zu haben meine. Aber wenn du die Liebe bist, warum versiegst du in mir?
Am Abend war ich wieder im Internet. Das klingt es wie ein Bekenntnis. Was bereue ich, worum trauere ich? Mann trat sich nahe, schob die Verdrängung weg und war gleichzeitig mit verschiedenen Orten nicht mehr allein; Mann baute Zukunftspläne einer freien Gesellschaft im Sinne einer grossen Familie, wo sich jeder liebt. Fördert das nicht mehr Leben als nochmal ein Buch schreiben, das wieder vertragsgerecht ausgestellt wird?
Gestern fand mein Therapeut (der immer konsequent für meine Entfesselung argumentiert, und das auf höchstem Niveau), dass mein Verhalten im Einklang steht mit der neusten, anthropologischen Forschung über sexuelle Appetenz. Ich bin wieder einmal fein aus allem raus und habe einen vogelfreien Muttertag, weil ich mich überall entschuldigt habe.

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