Freitag, 18. Mai 2007

"Blutend rot blühend"

Lieber ec
Gerade hat mich ein gemeinsamer Bekannter von uns angerufen, nämlich von der Basisgottesdienstgruppe – rat einmal wer – um mich zu fragen, wie mir die monatliche Feier gefallen hat. Wieviele Jahre ist es her seit meinem letzten Besuch? Zwei oder drei?
Die Begegnung mit dir, mein Freund, war für mich ein eindeutiges Highlight. Wir trafen uns bei der Kleingruppe Farbe Rot, auch Gerard war dort; ein lustiges Trio hatte sich wieder.
ec, mein Lieber, verzeih mir, dass ich dich beim Kürzel nenne, statt irgendeinem affektivem Kosenamen. Sieh auch der öffentlichen Form meiner Korrespondenz nach; ich fühl mich nun mal als Schreiberling, in mir wird so vieles frei, wenn ich mich äussern darf auf eine Art und Weise, die möglicherweise von verschiedenen Leserinnen reflektiert und unterschiedlich verstanden oder beurteilt wird. Ich stelle mich nämlich direkt keiner Beurteilung aus meiner Grundangst durchzufallen. Auch das ist einer aus 10000 Gründen für meine Religiosität: einzig der gütige Gott, der Allerbarmende, darf mir dufte Noten geben.
Wie liest du meinen Brief bis zu diesen Abschnitt? Vertrauensvoll, sympathiegewiss oder verhalten, skeptisch, in einer düsteren Vorahnung, dass ich abrechne?
Warum ich die rote Farbe gewählt habe, wolltest du wissen. Weil Spiderman meine neue Identifikationsfigur sei, gab ich zur Antwort. Es gab keine Gruppe Schwarz. Ich wäre sonst hin- und hergerissen gewesen zwischen Eros und Thanatos. Und wie dir auf dem aktuellen Filmplakat von Spiderman III sicher nicht entgangen ist, arbeitet dessen dunkle Seite diesmal eng mit dem rot-blau Kostümierten zusammen. Auch du hast beide Seite ausgeprägt. Vom rot/schwarzen Muster war unsere Freundschaft am Ende sehr durchtränkt; unsere Charakteren gaben ihr eine eigenartige Dynamik.
Du tauchtest gestern unverhohlen neben mir auf, bei Farbe rot, wie ein Magier. Ich hatte mich zugegebenermassen ein bisschen auf dich eingestellt, als ich zur Feier hin ging, aber ich konnte einmal mehr die reale Begegnung im Geist nicht vorwegnehmen. Von meinem Sitzplatz aus hatte ich dich nicht gesichtet, und ich bedauerte schon, dass du nicht da warst, denn ich fühlte mich sehr einsam in der Gruppe. Mir fehlte der herzliche Bezug. Doch den stelltest du rasch her, mit deiner nonchalanten Art. Du knüpftest mit deiner fröhlichen Offenherzigkeit an unsere besten Zeiten, scheinbar unbelastet oder gar nichtsahnend gegenüber dem sehr harten Abbruch unserer schönen Verbundenheit damals.
Klingt es narzisstisch und selbstbemitleidend, wenn ich hier schreibe, nicht dir schreibe, denn das lesen auch noch andere, wie ich ziemlich lange, wirklich ziemlich lange um dich getrauert habe, wie um wenige Menschen? Ich hab zwar auch lange um meine Eltern getrauert und traure manchmal heute noch, obwohl sie beide „leben“ (beide wissen, sie haben einen manchmal sehr vorwitzigen Sohn); ich schreibe bis heute rührende Briefe an meinen Lieblingsmönch (alles „offene“ Briefe, „Literatur“), und meine ersten Liebe taucht noch dann und wann in meinem Schlafbewusstsein auf. Vielleicht bin ich gar nicht so beziehungsarm, wie ich manchmal meine. Ist Trauer nicht ein schönes Zeichen einer nachträglichen Verbundenheit? Natürlich hat das „Nachträglich“ seine Tücken. Warum nicht „jetzt“? Warum bin ich unspontan und erst im nachhinein altklug?
Ich habe auch von dir geträumt, kleiner ec, in wirklich ergreifenden Bildern, um dich zu vergessen. Einmal trugst du einen riesigen, roten Regenschirm. So viele Tränen fielen offenbar auf dich, dass du ihn brauchtest, zumindest im Traum. Dabei gabst du dich so gefrierkalt am Schluss unserer Kamradie, während ich nirgendwo, in keiner denkbaren Himmelsrichtung irgendeine Sackgasse sah. Ich verstand keinen Tod. Deine radikale, panzerknackersichere Kontaktblockade war für mich absurd. Ich musste sehr viel Egoismus überwinden, bis ich verstand, wie ernst es dir war. Mehr Egoismus als mir gut tat. Ich machte hier eine Ersterfahrung - keinerlei Déjà-Vu - die mir die Kehle zuschnürte. Noch heute kann ich das Gefühl abrufen. Aber du wecktest gestern die anderen Gefühle in mir, die nicht sterben mussten. Auch der Tod löscht Gefühle nicht, er setzt nur ohnmächtige hinzu.
Du warst freundlich und aufgeschlossen und eigentlich hattest du eine Menge good news. Ist es so, ec, war es nicht Gesellschaftsrollenspiel (das glaube ich nicht), dass vieles sich positiv für dich entwickelt hat: deine finanzielle, deine berufliche, deine häusliche Situation und dass du Söhne hast, die wie junge Ölbäume wachsen, weit über uns Heckenstauden hinaus? Oder warst du mir doch zu rhetorisch, zu gut gelaunt, so dass ich nach der Kleingruppen“arbeit“ recht melancholisch wurde auf meinem Stuhl und beschloss, mich gleich nach der Feier von dir zu verabschieden. Ich wollte nicht grusslos weg, ich wollte dir schreiben (d.h. ich wollte im nachhinein altklug wirken, was ich hier ja prompt tue). Viel Echo kam mir in den Sinn auf unser fröhliches Treffen bei Farbe rot. Ich wollte dir aus meiner Buchveröffentlichung die entsprechenden Seiten über den Waschbär zustellen, die ich wehmütig im Gedanken an dich nach deinem Notstopp geschrieben habe, z.T. sogar unter Verwendung von italienischen Gebetszeilen aus deiner Feder.
Was wollte ich dir beim Abschied sagen, die manchmal in grossen Gruppen von meiner Seite her kurz ausfallen? Was war unmissverständlich lieb gesagt und für andere Ohrenzeugen zumutbar und nicht zu privat? Ich wollte dir sagen: ec, du bist cool, wie du deine Power lebst. Setz mit Freude daran fort! So ungefähr sagte ich es dann auch. Das war absolut aufrichtig und ohne meine gewohnte Ironie oder Doppelbödigkeit. Eigenartigerweise erinnerte ich mich vorher wieder an deinen Skorpionaszendenten, der sich mit meiner Waage missverhielt. Aber ich dachte in diesem Moment bewusst nicht von meiner Person her, ich wollte dich als dich denken, und dein Pluto steht in zehn. Markant, an gesellschaftlicher Stelle. Und du lebst ihn, du schöpfst aus ihm. Es machte mir Freude, das bei Farbe rot zu spüren. Du lebst eine hohe Verantwortlichkeit, sowohl im Beruf, wie gegenüber Menschen, für die du Verantwortung hast, und damit meine ich natürlich in erster und einzigartiger Linie deinen jüngeren Sohn. Du verdienst viel Geld und trägst einen grossen Schuldenberg ab mit wirklich kraftvollen Schaufelhüben. Ich bewundere dich, und du rührst mich!
Das sagte ich natürlich nicht. Aber du nahmst dir Zeit für mein Verabschieden. Du teiltest mir all das mit, wozu es bei Farbe rot nicht gereicht hatte. Und vielleicht wurde es am Ende wieder zuviel für mich sensiblen Jüngling. Du fordertest mich nämlich freundschaftlich auf, mich einmal bei dir zu melden. Ich wusste nun wieder, wo du wohnst (du warst nämlich umgezogen), und du brachtest mir deine selbstkreierte e-mail Adresse bei, mit dem gekauften Domain, das zu dir passt: ec.
Du hattest dich während unserer Freundschaft nie für mich geschämt. Weder dafür, dass ich kein Akademiker, noch dass ich in einer Anlehre-Funktion Teilzeit-Angestellter war, während du eine fachspezifische Abteilung leitest und an Kongressen referierst. Auch dass ich meine astrologischen Kurse nicht abgeschlossen habe, bewirkte gestern bei dir keinen Triumph über mich. Mein Minderwertigkeitskomplex hatte immer mir selber gehört, und du hast nach Kräften versucht, ihn überwinden zu helfen; glaubhaft und konsequent. Und dennoch möchte ich den Kontakt zu dir nicht erneuern. Erklärungen: vielleicht später. Nik

Donnerstag, 17. Mai 2007

Sorry für alles

Wo anfangen mit Salatessen? Johannis mischt gern viele Sorten untereinander: mindestens Karotten, Rucula, Tomaten und Ackersalat. Wir waren die vorletzte Woche in Faido, aber es führt zu weit, auch noch diese Eindrücke hier zu verarbeiten. Immer, wenn ich ein wenig gequält, bedrückt und genervt wirke, neckt mich Johannis und überbordet mit Schabernack. Damit befolgt er wohl unwillentlich das Gesetz des Ausgleichs innerhalb unserer Beziehungsdynamik. Aber auch ich quäle mich nicht mit Absicht. Die beste Verteidigung für meine Missstimmungen ist, es wurde vererbt. Am Sonntag war Muttertag. Aber meine Mutter ist eine Kollegin, und ich schaff es energetisch nicht, ein Leben lang dankbar zu sein für so viel vergangene Mühe. Immerhin war ich ein „pflegeleichtes“ Kleinkind. Ich geb nach wie vor zu: ich hätt mich selber anders komponiert, wenn ich Eingriff hätte nehmen können. Warum wolltest du mich unbedingt so haben, guter Gott? Es ging auch dir nicht um Gerechtigkeit, sondern wahrscheinlich ebenfalls um ein Gesetz des Ausgleichs. Und diesen Ausgleich suche ich nun täglich mega angestrengt. Überall suchen Exzesse oder Abszesse ihre Wirkung zu vergrössern und ständig bellt sie die Gegenmacht zurück. Ein geordnetes, anständiges, fruchtbares Leben im Innern, bleibt absolut eine Desillusion.
Schwere Kost wollte ich eigentlich nicht auftischen. Es ist sommerlich und mittags genügt ein einfacher Salat; ich brauche gar nicht so viele Komponenten wie der fröhliche Johannis mit seinen Marotten. Aber was soll ich meinen einzigen Freund kritisieren? Es müsste von seiner Seite her nicht einmal so sein, dass ich ihn als einzigen Freund kritisieren kann. Wie entschuldige ich allein den Umstand, dass ich mich abgeschnitten fühle und an verkehrten Fronten kämpfe für eine soziale Integration, die mich rückverbindet, nämlich, wie viele andere auch: im Internet?
Wieder gibt es eine Hitliste mit Kandidaten, wieder gibt es vertrauliche Aussprachen und „Nähe“. Einer wollte mich als rechtloser Sklave bei sich im Keller in Frankfurt verstecken, und als ich ihm schrieb: ich lös grad meine Wohnung auf, alles bekommt die Heilsarmee, gab er zurück: Wirklich? Ich wäre der erste, der endlich ernst macht. Ich schaff’s auch in ehrenwerteren Fällen nicht über den virtuellen Graben. Es scheitert am stimmigen Impuls, der getreulich ausbleibt.
Am Samstag war ich an der Buch Basel, weil ich wieder einmal an der Existenz meiner Autoren-Identität zweifelte. Da ich bisher kaum Rückmeldungen habe, auch keine Zahlen vom Verlag, redete mir eine Stimme ein, dass ich womöglich gar nicht vertreten war. Aber ich war dort, ich lag da auf dem Ausstellungstisch, ganz nah am Eingang. Und das Cover gab sich sogleich zu erkennen, da an diesem Stand wenige Umschläge Bilder hatten; der Herausgeber sieht grundsätzlich kein Bild auf dem Buchdeckel vor. Aber gab es mich wirklich? Ich sah einen Mann, den ich zu kennen meinte und der wie ein potentieller, zweiter Freund von mir aussah. Ich konnte ihn zwar nicht einordnen, aber es spielte keine Rolle, denn er sah mich nicht. Ich sah ihn mehrmals im verlorenen Kursieren zwischen Menschen und Büchern. Ein Verleger spasste mit einem Kind, und ich ging hinter Glas. War ich wieder in einer Welt von Eventualitäten, aber nicht in der Wirklichkeit? In keiner meiner möglichen sozialen Rollen (als Mensch? als Junge von 38 Jahren?) spürte ich irgendeine Veranlassung.
Immerhin war ich sportlich. Ich fluckste also wieder aus der Ausstellung und schritt mit kinästethischer Selbstwahrnehmung innert nützlicher Frist zur Clarakirche, und trat wie ausgemacht zur Zeit des Abendgottesdienstes ein. Hier verband mich der Glaube an jemanden, der du mir bitte helfen sollst(!), aber ich war der einzige Junge mit 38. Ein vierköpfiger Männerchor sang aus Petersburg und es klang wie ab Tonträger: waren das nur vier Stimmen, die den grossen Kirchenraum vollkommen mit Klang ausstaffierten? Man konnte hören wie man stichfestes Joghurt ass: das war mehr als quadrophon. War ich bei dir? Ich empfand einen unpersönlichen Trost, denn meine Lücken bleiben ewig. Was hab ich dich nicht in allen Schief- und Schräglagen gebeten, dass du sie schliessest. Ich geh immer neben mir her und finde es nicht gut, dass ich mich komisch finde, wo das den andern doch eigentlich egal ist. Sind wir nicht alle komisch, wenn die gesunde Verdrängung wegfällt? Ich bin nicht erleuchtet; mein Bewusstsein ist nicht erwacht. Vielmehr scheint, dass der Urgrund zumachte bei der Geburt. Gott, ich bekenn meinen Widersinn: auch wenn du für viele unentschuldbar zu selbstverständlich und unerforschlich geworden bist, wir zwei sind keine Monade, nur weil ich dich nötig zu haben meine. Aber wenn du die Liebe bist, warum versiegst du in mir?
Am Abend war ich wieder im Internet. Das klingt es wie ein Bekenntnis. Was bereue ich, worum trauere ich? Mann trat sich nahe, schob die Verdrängung weg und war gleichzeitig mit verschiedenen Orten nicht mehr allein; Mann baute Zukunftspläne einer freien Gesellschaft im Sinne einer grossen Familie, wo sich jeder liebt. Fördert das nicht mehr Leben als nochmal ein Buch schreiben, das wieder vertragsgerecht ausgestellt wird?
Gestern fand mein Therapeut (der immer konsequent für meine Entfesselung argumentiert, und das auf höchstem Niveau), dass mein Verhalten im Einklang steht mit der neusten, anthropologischen Forschung über sexuelle Appetenz. Ich bin wieder einmal fein aus allem raus und habe einen vogelfreien Muttertag, weil ich mich überall entschuldigt habe.