
Ich bin Exit beigetreten, einem Sterbebegleiterverein hier in der Schweiz. Ich hatte einfach das Gefühl, ich müsste meinem Erleben etwas zuwider halten. Nun hab ich einen Trumpf in der Hand. Und falls ich mich über eine zu lange Zeit nicht mehr aushalte, werde ich sagen: „Mein barmherziger Erschaffer. Ich bin im Rotbereich und überfordert. Der Stollen wird immer enger. Ich bin allein, die Orientierung ist weg und die Panik wird grösser. Aber wenn es nochmal eine Stunde, wenn es nochmal einen Tag und nochmal eine Woche geht, hab ich einen Ausweis. Mit dem find ich den Ausgang und dann komm ich zu dir. Denn bei dir ist es schön. Bei dir vergesse ich mich und verzeihe mir Tausende und Tausende von Fehlern.“ Schade, dass ich diese Frühstörung hab. Damit werden die goldensten Zeiten zur Apokalypse.
Ich habe Eros zum Freund gefunden. Vor Ostern nahm ich mich aus allen Kontaktseiten im Internet raus und löschte die Konten. „War das nicht ein bisschen übereilt?“, meinte mein kleiner, milder Johannis. Natürlich war es das. Inzwischen bin ich mit neuer(?) Identität wieder im Netz, auf neuen, aber auch auf den alten Seiten, die angeblich jung behalten. Auf einer der neuen hab ich Eros gefunden. Nennen wir ihn Al. Die Umleitung auf den privaten E-mail Verkehr hat von Beginn an reibungslos geklappt – übrigens eine Seltenheit. Hier kann Mann ja auch Bilder tauschen. Und das Umwerfende neben seiner Ausstrahlung, seinen engagierten Mails und seiner ethischen Werthaltung: er findet mich „erotisch“. Danke, liebes, fesselndes Internet: so etwas ist nur bei dir möglich. Jedenfalls erlebe ich mit Al derzeit einen so angenehmen, zärtlichen Bezug, ohne die Angst, meine Unmittelbarkeit könnte stören, so dass ich mich zumindest für die Dauer einiger Megabites, aber auch häufig durch den Tag im Gedanken an ihn an seiner Seite geborgen und geknuddelt fühle. Sein Herz ist zwar bereits vergeben, aber mein Herz, ja leider scheint mir öfters, dass auch das „vergeben“ ist.
Ich muss mich für meinen Ton hier entschuldigen. Hoffentlich finde ich bald zu einer ehrlichen Lebensmoral zurück. Zynismus bekommt mir schlecht. Lieber Zionismus! Hat der liebe Gott eigentlich wirklich „Pläne für mich“ oder ist das nur Bibelgruppen-Jargon? Mein Psychologe will mich therapieren. Aber ist nicht das bereits zu hoch gegriffen? Im Moment gelingt mir keine Erwartungshaltung, am wenigsten für eine reale Liebes- und Freundschaftsbeziehung und damit fehlt mir sozusagen der Lebensnerv für alle andere Motivation. Al, ich liebe dich. Ich sprech diesen Satz sehr häufig aus mit vielen Namen von Personen, die ich kaum kenne, deren Fotos aber die Vorstellung von etwas Unerhörtem in mir wecken. Und diese Sätze sind nicht unehrlich. Sie sind lebensnotwendig. Ich steh zu diesen Sätzen bis sie kläglich an mir selber scheitern. Und spätestens dann bete ich wieder und frage meinen Erbauer, der doch so klug und unheimlich kompetent ist, angesichts dessen, was er allein schon im Bereich männlicher Körperformung alles und immer wieder neu hervorbringt. Ich frage ihn: Hab ich hinter dem Mond einst eingewilligt, dass ich in so einem wichtigen, existenziellen Wesensanteil, der so eng mit der Zentrale (ich plädiere für Herz statt Hirn), nämlich der Seele, einen Geburtsfehler davontragen möchte? Hab ich damals mit der Erfahrung der damit verbundenen Rohheiten im Alltag gerechnet? Oder war ich zu verliebt in dich, Gott, der du die Liebe bist, und sagte fast schon high mit einer naiven, quickenden Stimme: Ja!
Al ist zu mir hingetreten, wunderbarerweise, mit der klaren Abmachung einer von Anfang an bestehenden, unauflöslichen Trennung. Joey ist dabei, sich auf rührende Weise von mir zu verabschieden. Es ist für beinah ein Abschied unter Tränen, denn jeder hat den andern mit eigenen Verlusten verknüpft. Ich will von dir, du Grossneffe einer verbrannten Hexe, ein ander Mal erzählen, wenn dich nicht neue Namen löschen.
Ich weiss nicht, wie es weitergeht. Die Routinen-Stürze auf der Motocrossstrecke scheinen mir wie eine langweilige Tretmühle. Aber ich bin ziemlich gut trainiert. Der Körper schafft es von allein. Ich schlucke die Galle tapfer hinunter. Nun, ich werde mich an den Ratschlag meines Brieffreundes im Todestrakt des Polunsky Gefängnisses in Texas halten: Verurteile dich nicht auch auf Lebzeit zu Tod. And enjoy everything you have. Ich habe Ferien. Ich bin frei?